Auftakt zum Runden Tisch „Hilfe für Kinder in Not“. Zwischenbericht der Landesregierung

Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!

Ich finde es schon durchaus angemessen, dass wir uns mit dem Thema Kinderarmut auseinandersetzen und da vielleicht auch nicht auf die Redezeiten so genau achten. Insofern finde ich es nur in Ordnung, dass die Landesregierung etwas mehr Zeit gebraucht hat, um darzustellen, was sie in dem Bereich Kinderarmut vorhat, und dass wir insgesamt ein bisschen länger darüber reden können, welche Maßnahmen auch geeignet sind.

Was haben wir heute gelernt? Wir haben gelernt, dass eine interministerielle Arbeitsgruppe jetzt Runder Tisch heißt. Als politisch arbeitender Mensch bin ich da ein wenig überrascht, weil ein Runder Tisch nach meinem Verständnis das bedeutet, was wir in der Ausgangsphase und der Endphase der ehemaligen DDR als „runde Tische“ kennengelernt haben, dass man nämlich am runden Tisch sitzt und die Dinge offen anspricht und sich auch die Wahrheiten auf gleicher Augenhöhe sagt.

Dass das innerhalb der Landesregierung offensichtlich nicht selbstverständlich war, ist für mich eine interessante Erkenntnis. Sei’s drum – wenn Sie jetzt zu Ergebnissen kommen, dann soll es so sein.

„Kinder in Not“ nennen Sie nun den Bereich Kinderarmut, wobei ich sagen muss: Darunter hätte ich vor allen Dingen die Frage des Gewaltschutzes, des Kinderschutzes insgesamt verstanden. Aber Armutssituationen und Situationen von Kindern in Elternbeziehungen, die – verursacht durch Arbeitslosigkeit und andere Dinge – große Schwierigkeiten auslösen, überlappen sich oft; das will ich durchaus einräumen.

2,52 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen leben in einkommensarmen Haushalten. Das sind 14,1 % der Bevölkerung. Aber 24,3 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Nordrhein-Westfalen leben in einem einkommensarmen Haushalt.

Besonders Familien mit Kleinkindern sind häufiger von Armut betroffen. Eine Schlüsselfunktion kommt der Erwerbssituation der Eltern zu, aber auch die Frage, wie viele Erwachsene mit den Kindern in einem Haushalt leben, ist von entscheidender Bedeutung. Alleinerziehende haben ein deutlich höheres Armutsrisiko. Nicht zuletzt ist auch die Zuwanderungsgeschichte ein wichtiger Indikator. 60,8 % der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte sind von Armut bedroht.

Armut von Kindern macht uns in Deutschland ganz besonders sensibel, weil Kinder aus sich heraus an ihrer Lebenssituation nichts ändern können. Die Studie der Arbeiterwohlfahrt gemeinsam mit dem ISS von 2005 macht deutlich, dass Kinderarmut ein strukturelles Problem ist und in den seltensten Fällen die Folge von Fehlverhalten der Eltern ist.

Nun ist die Frage: Ist die Landesregierung tatsächlich bereit, die Bekämpfung der strukturellen Armut in Nordrhein-Westfalen anzugehen? Das ist ja wohl der Sinn dieser Unterrichtung. Schaut man sich den heutigen Zwischenbericht an, dann können einem schon Zweifel kommen, ob die Landesregierung in allen Punkten verstanden hat, was notwendig wäre.

In Bezug auf strukturelle Armut ist Prävention nötig. Aber was kann man Ihrem Zwischenbericht entnehmen? Die Landesregierung schreibt auf, was sie alles macht, wie sie sich bemüht, was sie sich alles vorstellen könnte, wie man sich noch mehr bemüht und noch mehr macht. Die Botschaft – Minister Laumann hat es schon eingeräumt – von 2005 angesichts der Sozialberichterstattung war: Das sind die Armen von Rot-Grün. Dass sich die Armutsbekämpfung nicht so schnell machen lässt, ist dem heutigen Bericht zu entnehmen. Sie sagen auch, dass dies wohl doch längere Zeiträume in Anspruch zu nehmen scheint. Ist aber die Frage der Zeit tatsächlich der Punkt, oder ist es auch die Frage der Struktur der Maßnahmen?

Die Landesregierung schreibt an dieser Stelle die immer gleichen Maßnahmen herunter. Sie täuschen ein Stück Aktivität vor, indem Sie sagen: Das steht alles unter der Überschrift „Kinder in Not“. Vor drei Monaten stand es unter der Überschrift „Integration“ und vor zwei Monaten unter dem Begriff „Generationen“.

(Minister Armin Laschet: Ja und? Das hängt zusammen!)

– Sie bemühen sich in der Zwischenzeit noch nicht einmal mehr, die Texte umzustellen, sondern Sie nehmen die immer gleichen Textbausteine.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Und nebenbei: Diese wortgleichen Textbausteine sind noch nicht einmal mit dem Thema verbunden.

Gerade einkommensschwache Familien brauchen Beratung und Unterstützung; das ist eine Binsenweisheit. Lassen Sie mich jetzt die einzelnen Maßnahmen durchgehen, die Sie aufgeschrieben haben, die unter dem Thema „Armutsbekämpfung und Prävention“ greifen sollen:

Die Landesregierung unterstützt 300 Familienberatungsstellen im Land. Die Frage ist nur: Werden die armen Familien durch diese Angebote wirklich erreicht? Ich lese die Jahresberichte von vielen Familienberatungsstellen. Die Komm-Struktur gibt den Menschen, die in den Beratungsstellen arbeiten, immer wieder Anlass, zu überlegen: Erreichen wir mit unseren Angeboten tatsächlich die Menschen, die wir erreichen müssten? Erreichen wir gerade die Familien in prekären Lebenslagen? Wenn den Mitarbeitern in den Familienberatungsstellen selbst schon Zweifel daran kommen, sollte Ihr Bericht zumindest einen Hinweis darauf enthalten.

(Beifall von der SPD)

Ein anderes Beispiel: Die Landesregierung fördert zurzeit 1.500 Familienzentren bzw. sie sagt: 1.500 Kindertageseinrichtungen sind zu Familienzentren zertifiziert. Das Problem ist aber – das wird in Ihrem Bericht überhaupt nicht deutlich gemacht –: Wo liegen diese Kindertageseinrichtungen? Liegen sie in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf? Liegen sie in Sozialräumen, in denen besonders schwierige, auffällige Familien leben?

(Minister Armin Laschet: Ja!)

– Ich sage Ihnen: Das ist nicht so, jedenfalls nicht immer so. Sie können das auch nicht nachweisen,

(Minister Armin Laschet: Doch!)

weil Sie an der Stelle nicht evaluieren.

(Beifall von der SPD)

Mit der Frage, warum Sie das nicht nachweisen können, komme ich zum nächsten Punkt: Sie erwähnen an der Stelle, dass das KiBiz zur Armutsbekämpfung beiträgt, weil es die frühe Bildung ermöglicht. In Wahrheit ist das KiBiz doch ein Rückzug der Landespolitik aus der Angleichung von unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Das ist der Punkt.

(Beifall von der SPD)

Wenn Sie sich zurückziehen und das in die kommunale Verantwortung der örtlichen Jugendhilfe legen – das tun Sie mit dem KiBiz –, dann ist völlig klar, dass solche Dinge wie in meiner Heimatstadt passieren. Meine Heimatstadt hat beschlossen, dass es keine sozialen Brennpunkte mehr gibt. In der Folge gibt es zum Beispiel auch keine besondere Förderung für Kindertageseinrichtungen in sozialen Brennpunkten mehr. Sie können das als contra legem bezeichnen, es aber auch nicht ändern.

(Beifall von der SPD)

Ganz genauso können Sie auch keinen Einfluss darauf nehmen, in welchen Stadtteilen es tatsächlich Familienzentren gibt. Sie haben die Hoffnung, dass die Kommunen so schlau sind, sie an der richtigen Stelle einzurichten. Das ist eben nicht so. Kommen Sie in meine Heimatstadt, dann kann ich Ihnen vorführen, dass das nicht der Fall ist.

(Minister Armin Laschet: Es ist so!)

3.122 Lehrerstellen werden geschaffen. Führen diese zu einer besseren, individualisierten Förderung insbesondere von armen Kindern? Die Frage muss doch erlaubt sein. Wird die Notlage von armen Kindern verbessert, wenn die Lehrerstellen noch nicht einmal an den Schulstandorten landen, die besonders viele arme Kinder in ihren Klassen haben? Sie fördern mit der Gießkanne. Sie fördern Quantität vor Qualität und stellen das in Ihrem Bericht auch dar. Strukturelle Disparitäten können Sie zumindest mit diesen Maßnahmen nicht überwinden.

(Beifall von der SPD)

In diesem Bericht haben Sie relativ wahllos Maßnahmen zusammengeklaubt, die etwas mit Kindern oder Kinderarmut zu tun haben können. Ob Sie die Kinder von armen Familien aber auch erreichen, bleibt in Ihrem Bericht völlig offen.

Nehmen wir einmal ein Projekt wie JeKi – jedem Kind ein Instrument. Bis heute kann ich nicht verstehen, warum das Instrument, das die Kinder in sich tragen, nämlich die Stimme, nicht besonders gefördert worden ist. In der Praxis nehmen nachweisbar gerade Kinder aus armen Familien nicht an diesem Projekt teil, weil schon 40 € Leihgebühr für ein Instrument und ein Kostenanteil für einen Musiklehrer in armen Familien nicht aufzubringen sind.

(Beifall von der SPD)

Die Möglichkeit, sich Zuschüsse vom örtlichen Sozialhilfe- oder Jugendhilfeträger zu besorgen, ist schon eine Form der Stigmatisierung, die viele Familien scheuen.

(Beifall von der SPD)

Das gleiche gilt für das Muse-Projekt. Ich bezweifle nicht, dass Musik in den Kindern etwas auslösen und eine erhebliche soziale Integrationsfähigkeit zur Folge haben kann. Muse ist ein wirklich gutes Projekt. Ich sitze aber vor Kindern, die vor drei Jahren an dem Projekt Muse teilgenommen haben und heute keine Anschlussfinanzierung bekommen. Sie haben ihre Flöte abgegeben. Seitdem passiert nichts mehr. Das ist das Problem.

(Beifall von der SPD)

Wissen Sie, was Sie in diesen Kindern auslösen, wenn sich niemand mehr darum kümmert, ob das, was sie getan haben, erfolgreich war und wie es weitergeht?

Vor diesem Hintergrund sollten wir gemeinsam darauf achten, dass diese Projekte bei den Kindern ankommen, die sie benötigen. Sie müssen langfristig und nachhaltig wirken und die Kinder durchs Leben begleiten.

Lassen Sie mich kurz an den von Ihnen formulierten Leitzielen die Probleme Ihres Vorgehens aufzeigen. An dem Vortrag von Herrn Laumann wurde deutlich, dass wir Schwerpunkte setzen müssen. Ungleiches muss ungleich behandelt werden. Gerade Familien in schwierigen Sozialräumen brauchen mehr Hilfe und Förderung. Das geht zulasten der anderen Regionen im Land. Strukturelle Defizite können nur dadurch aufgearbeitet werden, dass Sie benachteiligten Kindern in benachteiligten Sozialräumen besondere Förderung zukommen lassen.

Ich will Ihnen das beschreiben: In meiner Heimatstadt Essen sind 30 % der Kinder von Kinderarmut betroffen. Wenn Sie genau hinschauen, dann gibt es Sozialräume – die Untersuchung von ZEFIR hat Ihnen das vorgeführt –, in denen mehr als die Hälfte der Kinder in Kinderarmut leben und mehr als die Hälfte der Kinder in Familien mit Transferleistungsbezug leben. Es gibt Kindertageseinrichtungen, in denen für kein einziges Kind Elternbeiträge gezahlt werden.

Herr Laschet, an diese Stellen muss man auch wirklich herangehen. Bekommen diese Einrichtungen eine besondere Förderung? Nein, in meiner Heimatstadt ist das nicht der Fall.

(Sören Link [SPD]: In Duisburg auch nicht!)

Sie werden auch nichts daran ändern können. Deshalb sage ich noch einmal: Sie müssen Ungleiches ungleich behandeln. – Ihre Wähler wohnen nicht in den Sozialräumen, um die es geht. Aus diesem Grund werden Sie auf dem Land große Schwierigkeiten bekommen.

(Beifall von der SPD)

Sie wollen die lokalen Rahmenbedingungen verbessern und die Kommunen darin bestärken, integrierte Ansätze zu verwirklichen. Auf der anderen Seite haben Sie den Kommunen 1,84 Milliarden € entzogen. Geben Sie den Kommunen, was ihnen zusteht! Dann können insbesondere die strukturschwachen Kommunen im Ruhrgebiet eine bessere Sozialpolitik betreiben.

(Beifall von der SPD)

Nun holen Sie Experten an den runden Tisch. Um ehrlich zu sein, habe ich den Eindruck, ein bisschen Expertenwissen könnte helfen. Ich kann Ihnen meine Mithilfe anbieten. Mein Verein – der Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten – wird im nächsten Jahr 40 Jahre alt. Glauben Sie mir, dieser Verein weiß sehr gut, wo diese Menschen leben und wie man sie erreicht. Es geht nämlich darum, anzuerkennen, dass sie am Ende das Allerbeste für ihre Kinder wollen. Es gibt aber erhebliche Schwierigkeiten, das Allerbeste für sie zu bekommen und sie zu erreichen. Es geht darum, dass man diesen Menschen mit Vertrauen und Zutrauen entgegentritt und ihnen dabei hilft, sich selbst zu organisieren und ihren Kindern zu helfen. Das sind die entscheidenden Punkte.

Alle Wohlfahrtsverbände haben Forderungen nach anderer, systematischer und struktureller Prävention formuliert. Die Frage ist: Machen Sie sich diese Forderungen zu eigen, wenn Sie sie an den runden Tisch holen, und machen Sie sich vor allem die Konsequenzen für die Finanzierung zu eigen oder nicht?

Zu den Regelsätzen für Kinder haben Sie schon gesagt, Sie haben einiges erreicht. In der Zwischenzeit hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, wie die Regelsätze für Kinder zu verstehen sind. Sie können nämlich eben nicht als 60 % von dem abgeleitet werden, was ein Erwachsener benötigt. Dies ist die völlig richtige Denkweise. Die Frage ist nur, was aus Ihren Bundesratinitiativen von Mai und November des letzten Jahres wird, die dort jetzt wie Blei liegen. Gehen Sie mit uns gemeinsam voran! Oder steht zu befürchten, dass Teile der Großen Koalition in Berlin und Sie nicht mehr die Kraft haben, tatsächlich im Sinne der Kinder in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland etwas zu verbessern? – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)